Verschärftes Hartz IV-Inkasso: In der Regel keine Vergleiche

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Arbeitsmarktberater wurden für Inkasso-Büros der Bundesagentur für Arbeit in Recklinghausen, Bogen, Hannover, Halle und Kiel zu Inkasso-Eintreibern umgeschult, um Schulden von Jobcentern, Familienkassen und Arbeitsagenturen einzutreiben (Pressefoto: Arbeitsagentur.de)
Arbeitsmarktberater wurden für Inkasso-Büros der Bundesagentur für Arbeit in Recklinghausen, Bogen, Hannover, Halle und Kiel zu Inkasso-Eintreibern umgeschult, um Schulden von Jobcentern, Familienkassen und Arbeitsagenturen einzutreiben (Pressefoto: Arbeitsagentur.de)

100 Euro für die Stromnachzahlung, 1.000 Euro für die Mietkaution oder 300 Euro für eine Waschmaschine, wenn die alte den Geist aufgegeben hat. Hartz IV-Empfänger können von dem Existenzuminimum in Höhe von 404 Euro nichts sparen und solche Ausgaben nicht stemmen. Sie müssen bei jeder größeren Ausgabe ein Darlehen beim Jobcenter aufnehmen.

Die Darlehen bei Jobcentern erreichten im vergangenen Jahr die Rekordsumme von 86,4 Millionen Euro – vor neun Jahren waren es noch 33 Millionen Euro. Auch die Summe, die einzelne Arbeitslose im Schnitt bekommen und dann an das Jobcenter zurückzahlen müssen, hat sich seitdem verdoppelt: auf 430 Euro. Auch Aufstocker häufen oft Schulden beim Jobcenter an, weil ihr Einkommen und damit die Unterstützung vom Amt schwankt und sie ihm zeitverzögert Geld zurückzahlen müssen. Aufstocker, errechnete das Statistische Bundesamt, seien „überproportional häufig überschuldet“.

Pro Darlehen verlangt das Jobcenter 10 Prozent des monatlichen Regelsatzes, also jeweils 40,40 Euro, als monatliche Rückzahlung zurück.

Normalerweise fallen Menschen, die so wenig zum Leben haben, unter die Pfändungsschutzgrenze. Gläubiger können bei Hartz IV-Empfängern nichts pfänden. Doch es gibt einen Gläubiger in Deutschland, für den diese Regel nicht gilt: die Bundesagentur für Arbeit mit den nachgegliederten Jobcentern. Um Darlehen und überschüssige Aufstockungen wieder einzutreiben, dürfen sie bis zu 30 Prozent des Minimalbetrags abziehen – auch während der Betroffene noch arbeitslos ist. Nach Beschwerden hat die Bundesagentur für Arbeit im März 2016 die Mitarbeiter in den Jobcentern veranlasst, mehrere Darlehen nur noch nacheinander und nicht mehr parallel zu tilgen. Auch die ab 1. August 2016 gültige Rechtvereinfachung des zweiten Sozialgesetzbuchs enthält diese Änderung, schrieb Professor Dr. Stefan Sell vom Institut für Sozialpolitik und Arbeitsmarktforschung an der Hochschule Koblenz auf seinem Blog O-Ton Arbeitsmarkt.

Aber: Seit Anfang des Jahres ist ein knallharter Hartz IV-Inkasso aktiv

Aber mit einer neuen, harten Linie lässt Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) die Jobcenter ausstehende Schulden bei Arbeitslosen rigoros eintreiben, wie die Berliner Autorin Kristiana Ludwig in der Süddeutschen Zeitung beschreibt: „Seit Anfang dieses Jahres hat die Arbeitsagentur einen eigenen Inkasso-Dienst aktiviert, der sich verstärkt um solche Forderungen kümmern soll. Die Behörde verspricht sich dadurch Mehreinnahmen von rund 70 Millionen Euro im Jahr.“

Das Bundesarbeitsagentur Amt hat in Vorbereitung darauf bereits Ende letzten Jahres fünf Inkasso-Stützpunkte in Recklinghausen im Ruhrgebiet, Bogen, Hannover, Halle und Kiel geschaffen, an denen sich Mitarbeiter auf das Eintreiben von Außenständen konzentrieren sollen.

Im November und Dezember haben dort jeweils rund 180 Mitarbeiter ein „Intensivtraining Telefoninkasso“ von der Deutschen Inkasso Akademie bekommen, einer Tochter des Bundesverbands deutscher Inkasso-Unternehmen. Die Bundesagentur erwägt außerdem, die privaten Inkassounternehmen gleich selbst zu beauftragen. Dies sei bereits „erfolgreich erprobt“ worden. Eine Sprecher der Bundesagentur für Arbeit sagte Ende letzten Jahres der Süddeutschen Zeitung, aktuell seien noch keine Firmen eingebunden. Man prüfe aber, „ob es wirtschaftliche Möglichkeiten der Beteiligung externer Dienstleister in Teilbereichen des Inkasso“ gibt.

In der Regel keine außergerichtlichen Einigungen mehr

Ein Papier aus dem Haus von Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD), das der Süddeutschen Zeitung vorliegt, schreibt der Agentur vor, dass sie sich nicht mehr auf außergerichtliche Einigungen einlassen darf – außer in besonderen Härtefällen.

Die Süddeutsche Zeitung stellte dazu am 22. Juli 2016 fest: „Bundesweit machen Schuldnerberater seither die Erfahrung, dass sich Jobcenter nun auf keine Verhandlungen mehr einlassen.“

Einsicht in Nahles-Anweisung musste erstritten werden

Professor Sell macht darauf aufmerksam: „Die Einsicht in das Dokument, mit dem Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) solche Einigungen einschränkt, konnte nur unter Anwendung juristischen Zwangs ermöglicht werden, konkret von Matthias Butenob von der Landesarbeitsgemeinschaft Schuldnerberatung Hamburg, der das unter Berufung auf das Informationsfreiheitsgesetz erstritten hat.“

Und was sagt das Bundesarbeitsministerium dazu?

Nahles‘ Sprecher erklärt, man werde weiterhin jeden Einzelfall prüfen. Wenn die wirtschaftliche Existenz des Betroffenen ernsthaft bedroht sei oder die Überschuldung ihn „dauerhaft demotiviert und ihn unter dem Druck der Verhältnisse sozial abgleiten“ lasse, sei eine Einigung noch immer möglich.

Nach Einschätzung des Rechtsanwalts Marcus Köster von der Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen wird es für Arbeitslose jedoch schwer, eine solch starke Belastung zu beweisen. „Für so einen Beleg müsste man einen Arzt einschalten und ein Attest liefern“, sagt er.

Die harte Linie, keine Vergleiche durch das Hartz IV-Inkasso, könnte Arbeitslose in die Insolvenz treiben

Kristiana Ludwig: „Damit ist bei allen verschuldeten Arbeitslosen, die auch bei der Arbeitsagentur in der Kreide stehen, ein Insolvenzverfahren programmiert.“ Die Zeche zahlen die Steuerzahler. Kristiana Ludwig schreibt dazu: „Den Preis für die harte Linie von Andrea Nahles zahlen nicht nur die Arbeitssuchenden, sondern auch die Bundesländer. Etwa 2.000 Euro kostet ein Insolvenzverfahren, das den Menschen bei einer gescheiterten Einigung bevorsteht – bei mittellosen Bürgern müssen die Länder diese Kosten übernehmen. Eigentlich will das Bundesjustizministerium diese teuren Verfahren vermeiden, eben deshalb gibt es eine Verhandlungspflicht.“ Die nun von Andrea Nahles ausgehebelt wurde.
Wenn die Jobcenter den Leistungsempfängern Rückforderungen schicken, ist das Geld meist schon verbraucht, kritisierte Michaela Hofmann von der Caritas für das Erzbistum Köln. „Die Leute können nichts ansparen“, sagte sie der Süddeutschen Zeitung. Gerade bei Langzeitarbeitslosen sei das Geld durch dauerhafte Abzüge so knapp, dass sie immer wieder neue Darlehen aufnehmen müssten, um Stromrechnungen oder eine neue Waschmaschine zu bezahlen. Frieder Claus, der elf Erwerbslosen-Beratungsstellen der Diakonie im Landkreis Esslingen in Baden-Württemberg betreut, sagte Ende letzten Jahres, dass etwa die Hälfte seiner Klienten weniger Geld bekommt, als es der Hartz-IV-Satz vorsieht. Mit dem Hartz IV-Inkasso droht die Privatinsolvenz. Mit einer Privatinsolvenz sinken die Chancen, wieder einen Job zu finden, erheblich. Viele Arbeitgeber fürchten den zusätzlichen Arbeitsaufwand und hegen ein Misstrauen gegen Insolvenzler und stellen daher nicht ein.

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11 KOMMENTARE

  1. Die Eintreiber sind übrigens kriminell !
    Da diese keine hoheitlichen Befugnisse besitzen, haften sie mit ihren Privatvermögen! Einfach wegen Amtsanmaßung, Nötigung usw Strafanzeigen stellen!
    Krankes System!

  2. Nahles und arbeit ? fehlanzeige und sowas ist ministerin. sowas gehört aus dem amt gejagt in einer Demokratie . die faulste Sau auf SPD boden . NIE gearbeitet aber Sprüche klopfen 2017 kommt die Quittung

  3. Nachwuch droht Gehalt auf Hartz-4-Niveau

    Ende der Wohlstands-Ära: Die Jungen werden ärmer als ihre Eltern

    http://www.stern.de/wirtschaft/geld/mckinsey-studie–die-jungen-werden-aermer-als-ihre-eltern-6971346.html

    oder auch ganz lecker: Verarmung als Megatrend – siehe auch: https://www.berlinjournal.biz/verarmung-kinder-aermer-als-eltern/

    Laut Politik müsse man sich „integrieren“ (nach Definition der Politik was das denn angeblich sei). Dazu braucht es in der heutigen Zeit üppige Geldmittel, die die meisten Leute, die angeblich „nicht integriert“ sind (auch sehr viele Deutsche).

    Auf einen Zusammenhang stieß die britische Soziologin Marii Peskow in der European Social Survey (ESS): Demnach sei die Bereitschaft zur Wohltätigkeit in egalitären Gesellschaften deutlich schwächer ausgeprägt, als in solchen mit großen Einkommensunterschieden. Die Erklärung dafür liege im sozialen Statusgewinn, den Wohlhabende in ungleichen Gesellschaften erfahren würden, wenn sie Schwächere unterstützten. In egalitären Gesellschaften herrsche hingegen das Bewusstsein vor, dass dank des Sozialstaats für die Schwachen schon gesorgt sei.

    Faulheit gilt in den westlichen Industrienationen als Todsünde. Wer nicht täglich flott und adrett zur Arbeit fährt, wer unbezahlte Überstunden verweigert, lieber nachdenkt als malocht oder es gar wagt, mitten in der Woche auch mal bis mittags nichtstuend herumzuliegen, läuft Gefahr, des Schmarotzertums und parasitären Lebens bezichtigt zu werden.

    Nein, stopp: Nur die armen Arbeitslosen fallen in die Schublade »Ballastexistenz«. Millionenerben, Banker- und Industriellenkinder dürfen durchaus lebenslang arbeitslos und faul sein. Sie dürfen andere kommandieren, während sie sich den Bauch auf ihrer Jacht sonnen.

    Früher glaubten viele Menschen an einen Gott. Wie viele heute noch glauben, da oben säße einer, der alles lenke, weiß ich nicht. Das ist auch egal. Gottes ersten Platz hat im modernen Industriezeitalter längst ein anderer eingenommen: Der »heilige Markt«. Der Finanzmarkt. Der Immobilienmarkt. Der Energiemarkt. Der Nahrungsmittelmarkt. Und der Arbeitsmarkt.

    Der Arbeitsmarkt ist, wie der Name schon sagt, zum Vermarkten von Arbeitskraft da. Wer kein Geld und keinen oder nur sehr wenig Besitz hat, verkauft sie. Die Eigentümer der Konzerne konsumieren sie, um daran zu verdienen. Das geht ganz einfach: Sie schöpfen den Mehrwert ab. Sprich: Der Arbeiter bekommt nur einen Teil seiner Arbeit bezahlt. Den Rest verrichtet er für den Gewinn des Unternehmers.

    Arbeit verkaufen, Arbeit konsumieren: So geschieht es seit Beginn der industriellen Revolution. Denn Sklaverei und Leibeigenschaft wurden ja, zumindest auf dem Papier, abgeschafft.

    Solange Furcht vor Strafe, Hoffnung auf Lohn oder der Wunsch dem Über-Ich zu gefallen, menschliches Verhalten bestimmen, ist das wirkliche Gewissen noch gar nicht zur Wort gekommen. (VIKTOR FRANKL)

    Die Todsünde der Intellektuellen ist nicht die Ausarbeitung von Ideen, wie fehlgeleitet sie auch sein mögen, sondern das Verlangen, diese Ideen anderen aufzuzwingen (Paul Johnson)

    Der Teufel hat Gewalt, sich zu verkleiden, in lockende Gestalt… (Shakespeare)

    Das Heimweh nach der Barbarei ist das letzte Wort einer jeden Zivilisation (Cioran)

    Alle Menschen sind klug – die einen vorher, die anderen nachher (Voltaire)

    Die Gefahr ist, dass die Demokratie zur Sicherung der Gerechtigkeit für diese selbst gehalten wird (Frankl)

    Absolute Macht vergiftet Despoten, Monarchen und Demokraten gleichermaßen (John Adams)

    Moral predigen ist leicht, Moral begründen schwer (Schopenhauer)

    Unser Entscheiden reicht weiter als unser Erkennen (Kant)

    Denn mancher hat, aus Furcht zu irren, sich verirrt (Lessing)

    Die Augen gingen ihm über, so oft er trank daraus… (Goethe)

    Immer noch haben die die Welt zur Hölle gemacht, die vorgeben, sie zum Paradies zu machen (Hölderlin)

    So viele Gefühle für die Menschheit, dass keines mehr bleibt für den Menschen (H. Kasper)

    „Die Dummheit von Regierungen sollte niemals unterschätzt werden“ (Helmut Schmidt)

  4. Unsere neoliberale Volkswirtschaft produziert Massenarmut – alles für den Exporterlös. Wir haben laut DIW einen GINI-Koeffizienten von 0.804 bei der Vermögensverteilung. Das ist der viertschlechteste Wert gleich nach Zambia, Ghana und den USA. Und nur in Deutschland und den USA haben die untersten 20% der Bevölkerung ein negatives Vermögen – also Schulden! In den USA liegt das meistens an den Studienkrediten, in Deutschland daran, dass selbst Vollzeitbeschäftigung kein Garant mehr dafür ist, dass man seinen bescheidenen Lebensstil finanzieren kann. Denn die meisten Kredite in Deutschland sind Konsumkredite und keine Hypotheken. Die Eigenheimquote ist hier ja auch minimal.
    Aber solange die Zahl der Milliardäre in Deutschland weiter regelrecht explodiert und die auch immer größere Vermögensmassen anhäufen, scheint es uns ja gut zu gehen. Wir zahlen über die EEG-Umlage den Großkonzernen die Stromrechnung, ein Konzern wie IKEA zahlt europaweit 43.000€ Steuern, Der Oetker-Konzern zahlt nur 16.000€ Steuern und heimst (wofür auch immer) 130.000€ EU-Subventionen ein und hat somit netto sogar Steuern eingenommen. Solange Michel sich das alles gefllen lässt, wird sich das auch nicht ändern!

  5. Das klingt nach einem neuem Geschäftsmodell der Sozialdemokraten, welche ihre Insolvenzkanzleien wieder mit neuem Steuergeld versorgen wollen.
    Privatinsolvenz ist ein „Vermittlungshemmnis“.
    Deshalb kann man diejenigen, welche in die Insolvenz getrieben worden sind besser entmündigen und dem staatlichen Sklavenmarkt zuführen oder in Erwerbslosen.KZs sperren um sich dort wiederum neue Posten zu bauen.

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