Arm trotz Arbeit: Berlin ist Hauptstadt der Hartz-IV-Aufstocker

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1,2 Millionen Deutsche sind trotz Erwerbstätigkeit arm, können Miete und Leben nicht vom Einkommen bestreiten (Foto: Gesichter von Hartz IV - Youtube/Jana Merkens)
1,2 Millionen Deutsche sind trotz Erwerbstätigkeit arm, können Miete und Leben nicht vom Einkommen bestreiten (Foto: Gesichter von Hartz IV – Youtube/Jana Merkens)

„Heute ist ein schöner Tag für die Arbeitslosen in Deutschland“ sagte der ehemalige Arbeitsdirektor von VW Peter Hartz am 9. August 2002.  Die nach ihm benannte Hartz-IV-Reform unter SPD-Bundeskanzler Gerd Schröder (72, Bundeskanzler von 1998 bis 2005) brachte schließlich mit der am 14. März 2003 bekannt gegebenen Arbeits- und Sozialreform Agenda 2010 ein Heer von Billigarbeitern in Lohn und Brot, die aber heute trotz Mindestlohn von ihrer Arbeit nicht leben können und den Staat um Aufstockung mit Hartz IV anbetteln müssen.

Bundesweit beziehen laut Bundesagentur für Arbeit rund 1,2 Millionen Menschen so genannte „Aufstockerleistungen nach dem Sozialgesetzbuch II“. Den Löwenanteil von 48 Prozent, nämlich 591.000 Aufstocker, machen überraschenderweise ordentlich sozialversicherungspflichtig Beschäftigte aus. Von denen arbeiten viele auch noch Vollzeit: 200.000. Nur neun Prozent der Aufstocker sind Selbständige. Geringfügig Beschäftigte – also zum Beispiel Mini- Jobber – stellen 43 Prozent.

„Wir subventionieren mit unseren Steuermitteln Unternehmen, die nicht bereit sind, ihre Leute vernünftig zu bezahlen“, so MdB Jutta Krellmann. Im Artikel 14 des Grundgesetzes heißt es: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“

Diesen sozialen Auftrag haben Firmeninhaber scheinbar vergessen. Sie zahlen ihren Beschäftigten so wenig Lohn, dass viele im reichsten Land der Welt betteln müssen.

Allein in Berlin können demnach 60.621 Menschen nicht allein von ihrem Gehalt leben.

Sie müssen so genannte „aufstockende Hartz-IV-Leistungen“ in Anspruch nehmen. Das geht aus der Antwort des Bundesarbeitsministeriums auf eine Anfrage der Bundestagsabgeordneten Jutta Krellmann (Die Linke) hervor, die der „WirtschaftsWoche“ und „Frontal 21“ vorliegt.

In Hamburg beziehen demnach 18.797 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte Hartz-IV-Leistungen, gefolgt von der Region Hannover (11.915), Köln (10.233), Leipzig (8.212), Frankfurt am Main (8.093), München (7.948), Bremen (6.713), Dortmund (6.529) und Dresden (5.955).

Aber es gibt auch kleinere Städte mit hohen Aufstockerzahlen: Offenbach mit rund 2.400 oder Frankfurt/Oder mit rund 1.100 – dort sind es rund 5 Prozent aller Erwerbstätigen.

Die Aufstocker arbeiten hauptsächlich im Einzelhandel – knapp 72.000; in der Gebäudebetreuung rund 69.000 und in der Gastronomie gut 65.000. In der Gastronomie liegt die Quote der sogenannten Aufstocker an allen Beschäftigten mit 7,3 Prozent besonders hoch.

Also in Branchen, die Gewinne schreiben.

Und auch bei Reinigungskräften, Lagerarbeitern und Paketzustellern reicht das Geld den Daten zufolge oft nicht zum Leben aus.

So mussten bundesweit fast 85.000 Reinigungskräfte im September 2015 ihren Lohn durch Hartz IV-Gelder aufstocken. Damit können 10,7 Prozent aller Reinigungskräfte nicht von ihrem Gehalt leben.

Bei den Lagerarbeitern und Zustellern mussten rund 53.000 trotz einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung Geld beim Jobcenter beantragen.

Professor Stefan Sell, Arbeitsmarkt-Experte, Hochschule Koblenz, sagte Frontal 21: „Hier sehen wir ein grandioses Versagen des deutschen Sozialstaates, das kann nicht sein und darf nicht sein, dass man bei Vollzeit-Erwerbstätigkeit in die Bedürftigkeit getrieben wird.“

Die Einführung des Mindestlohnes von 8,50 Euro ab 2015 unter Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) hat daran wenig geändert.

Professor Sell: „Der Mindestlohn reicht definitiv, wenn überhaupt, nur für einen alleinstehenden Erwerbstätigen, um gerade oberhalb der Hartz IV-Schwelle zu sein. Und in vielen Gegenden Deutschlands, denken Sie an die Großstädte, reicht auch der Mindestlohn für einen Alleinstehenden im Prinzip nicht aus.“

Und so kosteten die Aufstocker den Steuerzahler – 10,5 Milliarden Euro im vergangenen Jahr. Die Verbitterung ist für viele groß. Sie sind trotz Arbeit arm.

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23 KOMMENTARE

  1. Es ist keiner in der Lage wirklich Arbeit zu beschaffen ,und mit 40 oder 50 biste zu alt zum Arbeiten ,das ist der Wahnsinn in Deutschland und das wird sich auch nieh ändern,Man bekommt hier keine schongse mehr ,die Firmen müssten verpflichtet werden die Menschen Einzustellen,aber Stadt dessen wird das noch Finanziert von der Politik,die brauchen keine steuern bezahlen und die Menschen sieht man nicht mehr ,ist der Politik scheiß egal

  2. zig Tausende gegen wegen de Em zur Fanmeile ,,Warum gehen wir nicht mal alle auf die Stasse, Oder machen es wie in Frankreich, Alles dicht und liegen lassen.

  3. Ist das ein Wunder? Viele Arbeitgeber wollen am liebsten keine löhne zahlen..Ihr Einkommen behalten Sie lieber für sich. Ja..Sie wissen jopcenter zahlt für Ihre Arbeitnehmer.

  4. die zeit wo ein ganzes volk auf die strasse „wegen unzufriedenheit der politiker“ ist noch nicht lange her.
    Nun scheint ein grossteil dieses volkes wieder unzufrieden zusein!

    aber da man vom konsum vollgestopft, vom assi-tv hirntot gemacht, wird dieser teil nicht mehr auf die strasse gehen.

    ist es wirklich das was wir wollen – unzufriedenheit über die politik?

    wir haben ansonsten nichts gelernt und lassen uns wieder für dumm verkaufen.

  5. 3 Jahre Streit um einen Mindestlohn (Hungerlohn) von 8,50€ durch zu setzen.
    Einen ½ Tag um üppige Diäten hoch zu setzen……
    Mann nennt Sie Volksvertreter….. Das einzige was die Vertreten, sind Banken, Konzerne und vor Allen Dingen sich selber……..
    Jetzt wird der Kampf, was jeder normaler Mensch schon vorher wusste auf der unteren Ebene :
    Gering Verdiener, Arbeitslose, Harzer und (Schein) Asylanten ausgetragen……

  6. Geht allen noch zu gut. Vor Jahren gab es mal ne Demo vor dem AA Sonnenallee. Organisiert vom Verein für Arbeitslose.
    Es waren ca 400 bei der Demo…noch Fragen?

  7. Nicht nur in Berlin geben es viele die trotz Arbeit noch auf Sozialhilfe angewiesen sind. Das war vor 30 Jahren schon so weil Alleinerziehende nicht voll arbeiten können.

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