Von Alter Börse bis Pension 11. Himmel: Der neue Künstlerkiez heißt Marzahn

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Viele Künstler, wie die junge Französin Kerta von Kubin, flüchteten aus dem Tacheles in Mitte in die Alte Börse nach Marzahn. (Foto: Alte Börse Marzahn gmbH)
Viele Künstler, wie die junge Französin Kerta von Kubin, flüchteten aus dem Tacheles in Mitte in die Alte Börse nach Marzahn. (Foto: Alte Börse Marzahn GmbH)

Das einstige hausbesetzte Tacheles an der Oranienburger Straße Ecke Friedrichstraße in Mitte ist seit drei Jahren baupolizeilich gesperrt, die Mieten in Prenzlauer Berg, Friedrichshain und Kreuzberg sind explodiert. Da bleibt den Berliner Künstlern nur eins: die Flucht nach Marzahn.

Hier gibt es zum Beispiel die Alte Börse.

In Marzahn Süd, gleich hinter der Stadtgrenze Lichtenbergs, haben Anne Meyer und Mareike Hebing von der Alten Börse Marzahn GmbH gut Lachen. 

Anne Meyer und Mareike Hebing von der Alten Börse Marzahn GmbH haben gut Lachen, ihr Künstlerhort ist in. (Foto: Alte Börse Marzahn Berlin GmbH)
Anne Meyer und Mareike Hebing von der Alten Börse Marzahn GmbH haben gut Lachen, ihr Künstlerhort ist in. (Foto: Alte Börse Marzahn Berlin GmbH)

Auf Facebook konnten sie hocherfreut bekanntgeben: „Wir waren am 24. bis 27. Juli 2015 Gastgeber der xplore Berlin 2015. 3 Tage. 500 Besucher. 20 Nationalitäten. 50 Workshops. Danke, dass wir als Veranstaltungslocation unser Potential zeigen durften.“

https://youtu.be/5Oz3u9DN6g4

Es folgte im September das 2. Internationale Percussions Festival. Am 9. Oktober 2015 steht ein kostenloses Festkonzert des Jugendsinfonieorchesters Marzahns an, das sein zehnjähriges Jubiläum feiert.

Es ist ständig was los: Kleinkunstauftritte finden  mittwochs von 19 bis 22 Uhr statt, Livemusik verschönert das Abendessen samstags von 19 bis 21, und ein besonderer Film wird freitags um 19 Uhr gezeigt. Das Bier, das hier täglich ab 10 Uhr ausgeschenkt oder in 2-Liter-Flaschen abgefüllt und verkauft wird, wird in der eigenen Braustube selbst gebraut und heißt Marzahner.

Aber hier in der Straße Zur Alten Börse 59 (ehemals Beilsteiner Straße 51 bisw 85) wird nicht nur veranstaltet, getrunken und gegessen, sondern auch handfest gearbeitet. Vor allem Kleinbetriebe sind hier ansässig: Schneiderei, Redaktionsräume, Fotostudio, Instrumentenbauer, Töpferei und vieles mehr. „Eine Umgebung, die inspiriert“, stellt sich Geschäftsführer Andre Busch vor.

Initiator Peter Kenzelmann berichtet stolz: „Aus vermüllten Flächen und verrotteten Gebäuden haben wir 2014 einen Ort geschaffen, an dem sich schon innerhalb der ersten Monate zehntausende Menschen begegnen konnten.“

Die Alte Börse wurde um 1900 als ein Handelszentrum gegründet. Hier wurden Rinder, Schweine, Gänse und Schafe angeliefert und an Bauern aus Berlin verkauft. Mit eigenem Bahnhof, Postamt und Gasthaus. Nach 1945 wurde das Gelände durch die Nationale Volksarmee genutzt. Hier wurden auch Militärparaden geprobt. Danach verfiel das gesamte Gebiet in einen Dornröschenschlaf. Erst seit 2014 erstrahlt es Stück für Stück in neuem Glanz.
Die Alte Börse wurde um 1900 als ein Handelszentrum gegründet. Hier wurden Rinder, Schweine, Gänse und Schafe angeliefert und an Bauern aus Berlin verkauft. Mit eigenem Bahnhof, Postamt und Gasthaus. Nach 1945 wurde das Gelände durch die Nationale Volksarmee genutzt. Hier wurden auch Militärparaden geprobt. Danach verfiel das gesamte Gebiet in einen Dornröschenschlaf. Erst seit 2014 erstrahlt es Stück für Stück in neuem Glanz.

Der ehemalige Tierauktionshof, wo zu DDR-Zeiten die Panzer für die Parade am 1. Mai standen, ist so etwas wie das alternative, junge Zentrum geworden. Bunte große Bälle liegen vor Backsteingebäuden.

Die Scheune auf dem Gelände wird nachts zum Klub, mit rot verhängten Fenstern, Holzpaletten, umgedrehten Stehlampen an der Decke und nackten, kaputten Puppen an den Wänden.

Die Berliner Morgenpost urteilte nach einem Besuch im Sommer 2015: „Der Klub wirkt rau und echt, ein wenig wie früher in Friedrichshain oder Kreuzberg, bevor die Touristen kamen. Auch tagsüber meint man den wummernden Beat nachhallen zu hören. Die Hälfte der Besucher komme aus den Szene-Vierteln in der Innenstadt, erzählt Geschäftsführer Peter Kenzelmann.“

Draußen auf dem Hof steht eine Metall-Skulptur in nachdenklicher Pose, den Kopf auf die Hand, den Arm auf das Knie gestützt. Kerta von Kubin hat sie geschaffen. Die junge Französin arbeitet auch mit alten Münzen. Bis vor kurzem war sie noch im Tacheles in Berlin-Mitte. Sie flüchtete nach Marzahn. Kerta ist nicht die einzige, die in der Alten Börse neuen Raum für ihre Kreativität fand.

„Das ist das Berlin, nach dem ich gesucht habe“

Die Spanierin Zahra Luengo gestaltet hier Collagen aus Werbeplakaten, die sie am Straßenrand aufliest. Ausgerissen, zusammengekleistert, bemalt, kreativ. Die besten Stücke ihrer Karriere seien in Marzahn entstanden, erzählte die 29-Jährige beim Morgenpost-Besuch. „Das ist das Berlin, nach dem ich gesucht habe.“

Hier in Marzahn fühlten sich die Künstler „als ein Teil von etwas, das sich entwickelt“, sagt Kerta. Die 25-Jährige ist zusammen mit Claudio aus Italien ins Plattenbauviertel nebenan gegangen und hat ein Projekt mit Marzahner Jugendlichen gestartet. Sehr offen seien die Teenies, ganz anders, als man oft höre.

Das Kulturhochhaus Marzahn in Marzahn Nord gilt als Insidertipp

Das weiß auch die aus Ungarn stammende Sozialarbeiterin Marina Bikadi, die im Degewo-Hochhaus Wittenberger Straße 85 in Marzahn Nord das Kulturhochhaus Marzahn leitet.

Die Bibliothek im Künstlerhochhaus Marzahn versprüht mit der Erika-Schreibmaschine Ostalgiecharme. (Foto: Pension 11. Himmel)
Die Bibliothek im Kulturhochhaus Marzahn versprüht mit der Erika-Schreibmaschine Ostalgiecharme. (Foto: Pension 11. Himmel)

Gemeinsam mit Berlins größtem Wohnungsunternehmen, der degewo AG aus der Potsdamer Straße 60 in Tiergarten, gründete dort vor 21 Jahren der Kinderring Berlin e.V. aus der Schwedter Straße 234 in Mitte am Stadtrand Berlins zunächst einen Kinderkeller, in dem Kinder und Jugendliche zwischen 6 und 16 Jahren montags bis freitags von 13 bis 18 Uhr unter pädagogischer Betreuung spielen, basteln, computern, fotografieren oder gemeinsame Ausflüge unternehmen können. Die degewo AG verzichtet auf Miete und übernimmt sogar die Nebenkosten. Der Bezirk zahlt seit letztes Jahr auskömmliche 70.000 Euro für die Aktivitäten.

Zum Kinderkeller ist in der 1. Etage ein Hochhauscafe (montags bis freitags 10 bis 18 Uhr) dazugekommen. Und ganz oben im 10. und 11. Stock werden kunstvoll eingerichtete Zimmer an Gäste vermietet. Eine Nacht zu zweit im Doppelzimmer kostet pro Person 15 Euro. Darin enthalten ist ein Frühstück. Für die Bettwäsche muss zusätzlich eine Gebühr von 3 Euro pro Person entrichtet werden.

Die Künstlerzimmer mitten in der Plattenbausiedlung, also mit Blick auf andere Plattenbauten, heißen „himmelhoch C.ehn“ in der 10. Etage und „Pension 11. Himmel“ in der 11. Etage.

 

Das Kulturhochhaus Marzahn mit Aussicht auf eine andere Platte. (Foto: Pension 11. Himmel)
Das Kulturhochhaus Marzahn mit Aussicht auf eine andere Platte. (Foto: Pension 11. Himmel)

Der Reiseführer Marco Polo empfiehlt Berlin-Besuchern, einen Abstecher in den Elfgeschosser in der Wittenberger Straße 85 zu machen, und der Bildband „111 Orte, die man in Berlin gesehen haben muss“ aus dem Weltbild Verlag hat das Kulturhochaus Marzahn ebenfalls aufgenommen.

Die Gäste kommen vielfach aus dem Ausland, gerade haben Leute aus Singapur und aus Frankreich dort übernachtet. „Japaner und Südkoreaner sind ebenfalls immer wieder hier, nach Insider-Tipps in ihren Reiseführern“, sagte Marina Bikadi.

Die Berliner Morgenpost schilderte ihren Eindruck von dem Kulturhochaus Marzahn unter anderem so:

Hier spüren Gäste Ost-Charme, ein wenig Nostalgie, ganz viel Kreativität. An den Wänden steht Eichendorffs Mondnacht: „Es war, als hätt‘ der Himmel – Die Erde still geküsst…“. In der Küche Sammeltassen. Über dem Doppelbett ein roter Himmel.

In der Nähe soll Marzahn bald sein eigenes Hollywood-Schild bekommen, „MARZAHN“ in weißen Lettern an einem Berg.

Der „11. Himmel“ könnte auch im coolen Kreuzberg sein. Wäre da nicht die Aussicht vom Balkon. Vis-à-vis: Plattenbau in bordeaux-grau. „Ich kenn keinen Wessi, der sich in die Platte traut“, singt der Marzahner Rapper Joe Rilla. Damit behält er wohl nicht recht. Dann lädt er ein: „Und ihr könnt rüberkommen, willkommen im Niemandsland. Keine Gegend ist wie meine, keine ist wie Marzahn.“

Die Mieten der Wohnungen in dem Kulturhochaus sind günstig. Eine Dreizimmerwohnung mit 69 Quadratmetern Wohnfläche kostet 465 Euro kalt. 4,81 Euro pro Quadratmeter weist der Verband Berlin-Brandenburgischer Wohnungsunternehmen als Marzahner Durchschnitt für das Jahr 2013 aus. Das macht Marzahn attraktiv für jene, die aus der Innenstadt vertrieben werden, weil sie die steigenden Mieten innerhalb des Berliner S-Bahnrings nicht mehr bezahlen wollen oder können.

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